• Einführung

Warum Tango?

Die meisten Tango-“Süchtigen“ stellen sich eine solche Frage nicht – sie wissen, dass sie es lieben, und deshalb tun sie es. Ich selbst habe seit 1995 den Drang, Tango zu tanzen, und er wird nicht schwächer. Aber abgesehen von solchen irrationalen Gefühlen bin ich auch daran interessiert, die zugrundeliegenden Qualitäten zu verstehen, die diesen Tanz so anziehend machen. Meiner Meinung nach ist Tango auf eine oder auch alle der folgenden drei Arten wertvoll:

- Als vergnügliche Erholung und gemütliches Beisammensein;

- Als therapeutische Aktivität;

- Als kulturell bedeutsame Kunstform, ein Instrument der Bewusstseinsentwicklung.

Auf die leichte Schulter genommen, ist Tango, wie jeder andere Gesellschaftstanz auch, eine tolle Alternative zu Freizeitaktivitäten, die sich um Essen und Trinken drehen. Ich persönlich war immer etwas sozial unbehaglich gewesen und habe es nicht genossen, viele Stunden in Bars, Restaurants oder auf Cocktailpartys zu verbringen. Die Tango-Szene fühlte sich für mich sofort wie eine natürlichere Art an, mit anderen zusammenzukommen. Es war einfacher für mich, stundenlang mit Leuten zu tanzen als mich 5 Minuten mit ihnen zu unterhalten. Aber auch das Reden wurde einfacher, denn der Tango bot auch unerschöpflichen Stoff für sinnvolle Gespräche. Es erscheint mir auch natürlicher, Menschen in einem Umfeld zu begegnen, das mit Tanzen zu tun hat – man drückt sich durch einen Tanz oft eloquenter und unweigerlicher aus als durch stundenlangen Smalltalk. Noch bevor ich die kulturelle Bedeutung des Tangos bewusst wahrnahm, hatte ich das Gefühl, kulturell in die Milonga zu gehören, obwohl ich in Russland geboren und aufgewachsen bin. Es machte für mich viel mehr Sinn, mit Menschen auf der Basis der Musik und des Tanzes, die wir liebten, zusammenzukommen, als auf der Basis der eher umstandsbedingten Arbeitsplatz- oder Schulbekanntschaften. Eine weitere Besonderheit des Tangos ist, dass er eine sinnliche, aber nicht sexuelle Interaktion mit dem anderen Geschlecht ist. Es erlaubt einem, das psycho-physische Wesen der anderen Person instinktiv zu erfahren, ohne zu persönlich zu werden. Es ist eine großartige Möglichkeit für Menschen, sich als Mann* und Frau* auszudrücken, ohne eine sexuelle Beziehung einzugehen.

Ein weiterer Grund, Tango zu tanzen ist, dass es als therapeutische Aktivität auf vielen Ebenen funktionieren kann. Zunächst einmal ist es eine leichte sportliche Aktivität, relativ sicher und zugänglich für jede Altersgruppe. Als solche kann es einen schon besser fühlen lassen, und es macht mehr Spaß als einige andere Workouts. Tango ist auch automatisch therapeutisch aufgrund der körperlichen Verbindung mit einem anderen Menschen, den es mit sich bringt. In der modernen Kultur fühlen sich immer mehr Menschen isoliert und es fehlt ihnen an körperlichem Kontakt, besonders, wenn sie Single sind. Von einer anderen Person für die Dauer eines Tanzes umarmt zu werden, kann einen großen Unterschied in der eigenen Stimmung ausmachen. Aber eine viel größere therapeutische Kraft des Tangos liegt darin, wie metaphorisch er für all unsere Beziehungen ist, und besonders für die Art und Weise, wie wir mit dem anderen Geschlecht umgehen. Tango wurde zu Recht als eine dreiminütige Liebesaffäre bezeichnet. Weil die Tango-Umarmung so eng ist und weil der Tanz improvisiert ist, drückt man unweigerlich seinen Charakter und seine Beziehungsmuster durch seinen Tanz aus. Das ist von außen nicht immer leicht zu sehen, wird aber von seinem*r Partner*in sehr deutlich wahrgenommen. Mit ein wenig Mühe kann man auch beginnen, die eigenen gewohnheitsmäßigen Einstellungen wahrzunehmen und wie sie die Erfahrung beider Partner*innen beeinflussen. Wenn man sich dessen bewusstwird, kann man eine Menge über seine Beziehungsmuster im Allgemeinen lernen, und das kann sehr therapeutisch sein (für mich war es das). Aber noch mehr kann man dazugewinnen, wenn man lernt, wie man die eigenen Muster kreativ umwandeln kann. Tango ist in gewisser Weise eine Modellbeziehung, in der man experimentieren und gefahrlos lernen kann, denn einen schlechten Tango zu tanzen, ist nicht so beängstigend wie in einer realen Liebesbeziehung zu scheitern. Ein weiterer therapeutischer Wert des Tangos ist, dass er unweigerlich ein kreativer Akt ist – jeder Tanz ist eine spontane, unvorhergesehene Interaktion. Als solcher entwickelt er unser kreatives Potential, bringt uns mehr in Kontakt mit unseren Instinkten und unserer Intuition. In der heutigen Welt finden viele Menschen nicht genug Raum für Kreativität am Arbeitsplatz, und ein kreatives Hobby zu haben, bei dem man sich freier ausdrücken kann, kann einen großen Unterschied für das eigene Wohlbefinden ausmachen.

Der größte Grund, Tango zu tanzen, ist meiner Meinung nach, dass er als eine evolutionäre Kunstform praktiziert werden kann – das Konzept, das ich im entsprechenden Abschnitt ausführlich erörtere. Tango ist eine Interaktion, die unsere Sinne, unsere Motorik, unsere Instinkte, unsere Intuition und unser ganzes psycho-physisches Wesen in einem solchen Ausmaß einbezieht, sodass er als Werkzeug für eine sehr allgemeine Entwicklung eines Menschen genutzt werden kann. Tango kann als eine Modellbeziehung gesehen werden, eine kreative Interaktion, die uns tiefere Prinzipien des Umgangs miteinander im Allgemeinen lehren kann. Auf diese Weise kann der Tango, wie die besten östlichen Kampfkünste, als Instrument für eine positive Transformation von Geist, Körper und Seele eines Menschen dienen. Wenn er mit diesem Ziel praktiziert wird, wird der Tango zu einer kulturell bedeutsamen Kunstform von seltener Art, die gleichzeitig das Wohlbefinden des Einzelnen und den allgemeinen Zustand der Kultur verbessert. Damit sich dieses Potential des Tangotanzens aber voll entfalten kann, ist eine richtige Herangehensweise an den Tango notwendig. Es begann für mich mit der Erkenntnis, dass, als ich lernte, besser zu stehen, zu gehen und meinen Geist zu kontrollieren, mein Tanzen fast automatisch besser wurde. Aber dann begann ich bewusst zu versuchen, zu verstehen, wie ich diese Kunst so praktizieren kann, dass sie am direktesten mit meiner gesamten positiven Entwicklung verbunden ist. Durch diese Herangehensweise erlebte ich schließlich die größte Verbesserung sowohl in meinem Tanzen als auch in meinem allgemeinen Wohlbefinden. Diese Art von Ansatz ist vor allem das, was ich auf dieser Website erforschen möchte.