• Die Vier Aspekte

Musikalität

Tangotanzen hat eine einzigartige Freiheit der musikalischen Interpretation. Im Gegensatz zu allen anderen Partnertänzen gibt es beim Tango kein festes rhythmisches Grundmuster. Selbst der so genannte „Grundschritt“ kann rhythmisch auf unterschiedliche Weise ausgeführt werden. Diese Eigenschaft des Tangos macht die Beziehung der Tänzer*innen zur Musik gleichzeitig anspruchsvoller, aber auch spannender. DIE WICHTIGSTE HERAUSFORDERUNG in der Musikalität ist es, mit den ausgefeilten Mustern – Phrasen, Akzenten und der Stille – die der Tangomusik innewohnen, umgehen zu können.

Für den Anfang ist es am besten den Tanz musikalisch so einfach wie möglich zu halten. Die grundlegendste Art, Tango zu tanzen, ist der Schritt auf die 1 und die 3 im Viervierteltakt der Musik. Man muss nicht wissen, was der Viervierteltakt ist – selbst die meisten Anfänger*innen können den Grundschlag der traditionellen Tangomusik hören. Aber ein wenig Übung ist in der Regel nötig, bevor man gleichmäßig auf den Schlag gehen kann. Ich empfehle, diesen einfachen Zugang zur Musikalität beizubehalten, während man die Grundlagen des Tanzes lernt.

Der nächste Freiheitsgrad, den es zu erkunden gilt, ist die Synkopierung. Zum Beispiel kann man einen zusätzlichen Schritt zwischen die „gelaufenen“ Schläge – die 1en und die 3en – setzen, wodurch entweder ein 1-2-3- oder ein 3-4-1-Muster entsteht. Diese Abfolgen haben ein „schnell-schnell-lang“-Gefühl und werden manchmal auch so genannt. Dieses Konzept kann auf mehrere schnelle Schritte in einer Reihe erweitert werden, zum Beispiel: 1-2-3-4-1 (schnell-schnell-schnell-schnell-lang). Diese werden vor allem für schnelle Molineten oder für Corridas verwendet, sind aber viel schwieriger gut zu tanzen (vor allem gut zu führen) und daher viel seltener als die 1-2-3- oder die 3-4-1-Muster.

Zusätzlich zur Beschleunigung durch solche Synkopen kann man den Grundrhythmus auch verlangsamen. Die grundlegende Art, das zu tun, ist das Anhalten, um einen oder mehrere der langsamen Schläge (die 1en und die 3en) zu überspringen. Dies ist die grundlegendste Form der Pause, die für das fortgeschrittene Tangotanzen sehr wichtig ist, wie ich gleich erklären werde.

Diese drei Optionen (ähnlich wie Halbe-Noten, Viertel-Noten und Pausen in der Musik) sind die grundlegenden rhythmischen Muster im modernen sozialen Tangotanz. In Buenos Aires macht die überwältigende Mehrheit der Tänzer*innen im Zentrum der Stadt nichts Anderes als das. Da die Abfolge von langsamen Schritten, schnellen Schritten und Stopps nie vorgegeben ist, bieten diese drei Optionen unendliche Möglichkeiten, so dass man einen Tango nie zweimal auf die gleiche Weise tanzen kann. Darüber hinaus kann man die Geschwindigkeit einiger Gewichtsverlagerungen leicht variieren, während man immer noch nach diesen Grundmustern schreitet, was die Vielfalt der rhythmischen Empfindungen weiter ausdehnt.

Aber das Beste der Tangomusik eignet sich für mehr als das. Hört man sich die Aufnahmen der 1940er Jahre mit den Orchestern von Ricardo Tanturi mit dem Gesang von Alberto Castillo oder Enrique Campos, Pedro Laurentz mit Alberto Podesta, Lucio Demare mit Raul Beron oder den Orchestern von Anibal Troilo oder Osvaldo Pugliese genau an, kann man eine Phrasierung von herausragender Freiheit und gleichzeitig rhythmischer Integrität hören. In den 1940er Jahren, als der Tango seinen Höhepunkt als Volkstanz erreichte, reagierten einige der eifrigsten Tänzer*innen auf diese Freiheit. Bis zum heutigen Tag kann man, vor allem in der Gegend um Villa Urquiza, Tänzer*innen sehen, die einen langsamen Schritt über mehrere Zählzeiten der Musik machen, oder leicht vor oder leicht hinter dem Schlag gehen. Das ist der Moment, in dem der Tanz meiner Meinung nach dem Besten der Tangomusik wirklich würdig wird. Ein*e Tangotänzer*in wird dann ähnlich wie ein Jazzmusiker, der seine Läufe auf immer spontanere und raffiniertere Weise synkopiert und phrasiert. Aber ein unmittelbares Problem bei der Eröffnung einer solchen musikalischen Freiheit ist, dass es schwierig wird, die Kriterien für gute Musikalität einzuhalten. Es kann manchmal schwer sein, jemanden, der die Musik auf eine sehr fortgeschrittene Weise hört, von jemandem zu unterscheiden, der sie überhaupt nicht hört. Sicherlich wird dieser Freiheitsgrad von einigen als Ausrede benutzt, um der Musik nicht viel Aufmerksamkeit zu schenken. Normalerweise sind es die Führenden, die dieses Problem haben. Es ist einfacher, eine fortgeschrittene Musikalität von einer nicht vorhandenen Musikalität zu unterscheiden, indem man mit der Person tanzt. Eine musikalisch fortgeschrittene Person wird ihren Rhythmus immer harmonisch mit dem Rhythmus des*r Partner*in verschmelzen und nur dann außerhalb des Takts gehen, wenn er oder sie das Gefühl hat, dass die Folgenden es bequem mittanzen werden. Im umgekehrten Fall, wenn die Führenden mit Sicherheit nicht den Takt hören, fühlen sich die Folgenden extrem unwohl und sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, zur Musik zu tanzen und dem zufälligen Timing des*r Partner*in zu entsprechen. In diesem Fall können die Folgenden den Führenden tatsächlich mit dem Takt helfen, sie durch ihre Bewegung und die Umarmung übertragen. Es erfordert ein hohes Maß an Geschick, aber es ist möglich – ich habe es gesehen. Wenn die Folgenden einer solchen Herausforderung nicht gewachsen sind, ist es besser, nicht weiter mit den grob unmusikalischen Führenden zu tanzen – auf diese Weise verstehen sie die Botschaft vielleicht schneller.

Über die drei grundlegenden rhythmischen Muster hinauszugehen, ist sehr schwierig, besonders, wenn man es gut machen will. Das ist der Grund, warum sogar einige der erfahrenen Tänzer*innen und Lehrer*innen nicht daran glauben. Es erfordert eine außergewöhnliche Fähigkeit, sich auf den Rhythmus und die Musikalität des Gegenübers einzustellen, sowie eine einfache Kontrolle der eigenen Gewichtsverlagerung, was beides nicht sehr verbreitet ist. Es erfordert ein hohes Maß an Gleichgewicht und Stille (siehe Abschnitte Partnerverbindung und Körperarbeit). Es erfordert auch ein Gefühl für rhythmische Phrasierung. Aber trotz dieser Schwierigkeiten stellt die rhythmische Freiheit für mich den wohl tiefgreifendsten ausdrucksstarken Aspekt des Tangotanzens dar. Sobald ich einmal damit angefangen hatte, gab es kein Zurück mehr. Es fühlt sich wie der ultimative Segen all der Arbeit an, die ich hineingesteckt habe – wenn plötzlich ungeahnte, aber vollkommen sinnvolle rhythmische Muster spontan, wie von selbst, durch meinen Körper flossen, im Einklang mit meiner Partnerin und der Musik zugleich. Solche perfekten Momente sind immer noch selten, aber häufiger als früher. Nach meiner Erfahrung ist die choreografische Freiheit dieses Tanzes nichts im Vergleich zur Freiheit der Musikalität.

Um mit einer solchen musikalischen Freiheit in Kontakt zu gelangen, sind eine gute Partnerverbindung und Körperbewegung notwendig, aber nicht ausreichend. Notwendig ist auch eine produktive Intention. Zu Beginn: Worauf hört man in der Musik? Zu was tanzt man? Es gibt eine Vielzahl von Instrumenten, die man herauspicken und ihnen folgen kann – Bandoneons, Geigen, Bass, Klavier. Ich hatte eine Phase, in der ich zu jedem Ton der dominanten Melodie tanzen wollte – und es schließlich auch konnte! Aber dann habe ich gemerkt, dass es eine Sackgasse war. Es bedeutete, die Musik zu wörtlich zu nehmen, mich ihr zu versklaven und meine Partnerin mit mir zu versklaven. Anstatt irgendeiner Stimme in der Musik zu folgen, ist es möglich, mit ihr zu interagieren, nicht genau den rhythmischen Mustern der Musik zu gehorchen, sondern eher auf ihnen zu „reiten“, wie ein Surfer auf der Welle reitet oder wie ein Vogel auf dem Wind.

Das Haupttor zur musikalischen Freiheit in diesem Tanz ist die Pause. Einige Alteingesessene verstanden die Bedeutung der Pause soweit, um sie zu konzeptualisieren und darüber zu sprechen. Der Villa Urquiza-Stil ist besonders für seine „pausierte“ Qualität bekannt. Die Pause bedeutet hier mehr als nur ab und zu innezuhalten. Es bedeutet, mitten in der Bewegung eine Pause zu schaffen, so oft wie möglich. Dazu muss man die Kontrolle über die eigene Gewichtsverlagerung erlangen, lernen, sie zu verlangsamen und mühelos mitten in ihr zu stoppen (siehe Abschnitt Körperarbeit). Wenn man das kann, befreit man seine Instinkte, um den Körper mit einem spontan passenden Timing zu bewegen. In diesem Zusammenhang fällt mir immer wieder die schöne Metapher für das Schießen eines Pfeils aus Eugen Herrigel‘s „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ ein:



„Man kann von einem normalen Bambusblatt lernen, was passieren sollte. Es biegt sich unter dem Gewicht des Schnees tiefer und tiefer. Plötzlich rutscht der Schnee zu Boden, ohne dass sich das Blatt gerührt hat...er [der Schuss] muss vom Bogenschützen fallen wie Schnee von einem Bambusblatt, bevor er überhaupt darüber nachdenkt.“

– Eugen Herrigel

Nur wenn man wartet, kann man genau den richtigen Rhythmus und das richtige Timing finden, die gleichzeitig mit dem Gegenüber, der Musik und dem physischen Raum harmonieren würden. Man kann beginnen, indem man versucht, so oft wie möglich anzuhalten und zu warten. Letztendlich kann der ganze Tanz im Zustand ausgeglichener Stille ablaufen, sodass in jedem Schritt eine Pause oder beinahe eine Pause ist. Das mag schwer vorstellbar sein, aber ich bestätige, dass es möglich ist, und dass es ungeahnte Freiheitsgrade in allen Aspekten des Tanzes eröffnet, insbesondere in der Musikalität. Auf diese Weise ist nichts vorprogrammiert, nichts ist intellektuell erdacht. Mit jedem Schritt öffnet man sich für die Musik, den Raum und die Bewegung des*r Partner*in. Die Fähigkeit, dies zu tun, hängt stark von der Qualität der Partnerverbindung und der eigenen Körperbewegung ab. Das wahre Innehalten wird durch das Gleichgewicht und die Stille jedes Körpers und des ganzen Paares ermöglicht.

Aus der Pause heraus entwickelt sich eine organischere und subtilere Beziehung zum rhythmischen Charakter der Musik und zum Rhythmus des*r Partner*in. Das schafft eine völlig neue Erfahrung, selbst wenn man nur zum Grundtakt geht. Als ich anfing, in jedem Schritt eine gewisse Stille zu finden, wurde einfaches Geradeausgehen plötzlich sehr spannend. Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich anfing, leicht neben dem Taktschlag zu gehen, und zwar auf eine Weise, die sowohl für mich als auch für meine Partnerin Sinn machte. Durch das Warten können beide Partner*innen in einen freieren musikalischen Dialog eintreten, bei dem das Timing eines jeden Schrittes nie vorherbestimmt ist. Das Innehalten und Warten eröffnet die musikalische Freiheit der Folgenden – die Führenden diktieren nicht immer das Timing, sondern laden die Folgenden zum Schritt ein und warten darauf, dass sie die Einladung entsprechend ihrer eigenen Musikalität interpretieren. Eine einzigartige Lesart eines bestimmten Stücks entsteht aus der Verschmelzung der musikalischen Sensibilität beider Partner*innen. Mit etwas Übung beginnt auch der Instinkt, rhythmische Muster zu finden, die organisch aus der Pause herauswachsen. Sie sind wie Phrasen oder Sätze, die spontan entstehen. Für die Führenden sind es Abfolgen von „Schritten“, für die Folgenden sind es Abfolgen von Verzierungen. Solche Muster sind von Natur aus ganz anders als Sequenzen, die erst im Kopf geplant werden. Der Unterschied ist wie der zwischen einem Baum und einer Beton-Struktur. Eine echte Phrase ist nicht geplant, aber sie ist oft festgelegt, was bedeutet, dass dieselbe Phrase von einem*r Tänzer*in bei vielen Gelegenheiten verwendet wird. Phrasen entwickeln sich, aber sie tun dies langsam. Deshalb sollten sie den Tanz nicht dominieren, sonst wird er weniger frei, mehr vorherbestimmt. Für einen größeren Teil eines Tangostücks sollten beide Partner*innen versuchen, innerhalb jedes Schrittes innezuhalten und zu warten, sei es bei einer Gewichtsverlagerung, am Anfang oder am Ende des Schrittes. Auf diese Weise entstehen immer wieder neue unvorhergesehene Sequenzen und rhythmische Muster.

Wenn dies alles ein wenig weit hergeholt oder vage erscheint, bin ich nicht überrascht. Es hat Jahre gedauert, bis ich die Pause überhaupt in Betracht gezogen habe. Ich erinnere mich, dass mir einige Alte sagten, ich solle langsamer werden, dass ich „rennen“ und „springen“ würde. Ich wollte das alles nicht hören. Ich wollte nicht, dass mir jemand sagt, wie ich die Musik fühlen soll. Aber mit der Zeit kamen all diese Kommentare zu mir zurück und halfen mir, ganz neue Ebenen dieses Tanzes zu entdecken. Wahrscheinlich braucht jede*r Jahre des Tanzens, bevor die Pause einen Sinn ergibt. Ich tanze seit 12 Jahren und habe erst in den letzten ein oder zwei Jahren begonnen, ihre Kraft regelmäßig zu erleben. In den ersten Jahren ist es meiner Meinung nach am besten, sich an die drei grundlegenden rhythmischen Muster zu halten, die ich oben beschrieben habe. Wenn ein*e unerfahrene*r Führende*r versucht, eine Pause zu machen, ist die Gefahr groß, dass er oder sie die Verbindung zur Partner*in verliert oder ihr das Gleichgewicht raubt. Es ist besser, zunächst in irgendein rhythmisches Muster einzusteigen und dadurch eine ununterbrochene Verbindung – sowohl mit dem Gegenüber als auch mit der Musik – zu spüren. Gleichzeitig ist es gut, sich der Möglichkeit einer freieren Musikalität bewusst zu sein, sodass wenn man bereit ist sie zu nutzen, davon Gebrauch machen kann.