• Die Praxis

Die Einstellung

Die allgemeine Einstellung der Praktizierenden zueinander, die Erwartungen, mit denen man zu einer Milonga geht, bestimmen weitgehend die Qualität der Erfahrung und des Fortschritts eines jeden. Es ist natürlich, dass man mit den besten Tänzer*innen tanzen möchte. Wie ich schon sagte, schafft das einen gesunden Wettbewerb, der dazu beiträgt, das allgemeine Niveau des Tanzens zu verbessern. Aber ein großer Fehler ist es, Menschen in „gute“ und „schlechte“ Tänzer*innen einzuteilen und nur mit den „Guten“ tanzen zu wollen. Erfahrene Tänzer*innen verfallen oft in eine solche kontraproduktive Haltung. Das Ergebnis ist, dass sie sich darüber beschweren, dass es nicht genug „gute“ Leute gibt, mit denen sie tanzen können, und dass sie aus diesem Grund nicht mehr zu den Milongas kommen. Ironischerweise habe ich diese Beschwerde immer wieder gehört, sowohl von den Führenden als auch von den Folgenden in New York City! Wenn die Führenden meinen, es gäbe nicht genug gute Folgende, und die Folgenden meinen, es gäbe nicht genug gute Führende, dann kann das nur eines bedeuten: Viele Menschen halten sich für viel besser, als sie wirklich sind. Um weiterhin Spaß an den Milongas zu haben, musste ich bescheiden sein und lernen, mit vielen verschiedenen Menschen gut zu tanzen. Ich glaube, dass das wahre Können eines*r Tangotänzer*in daran gemessen werden kann, wie gut er oder sie mit einem*r Anfänger*in tanzen kann. Aus diesem Grund lege ich oft Wert darauf, mit einer unerfahrenen Tänzerin zu tanzen. Danach fühlt sich ein*e durchschnittliche*r Tänzer*in großartig an! Außerdem hat ein*e Anfänger*in manchmal einen großartigen natürlichen Rhythmus, ungetrübt von jeder künstlichen Technik, und es ist ein Vergnügen und ein Nervenkitzel, sie mit Leichtigkeit in Figuren führen zu können, die sie noch nie gemacht hat.

Sowohl für Führende als auch für Folgende ist es keine Sünde, mit den Besten tanzen zu wollen – aber mit den Besten von denen, die anwesend sind! Wenn nicht genügend „gute“ Leute anwesend zu sein scheinen, sollte man die persönliche Verantwortung für diese Tatsache übernehmen: entweder hat man es nicht geschafft, sie dazu zu bringen, wiederkommen zu wollen, oder man hat nicht genug getan, um gute Tänzer*innen zu schaffen, oder (was am wahrscheinlichsten ist) man hat noch nicht ein so gutes Niveau erreicht, dass man keine*n außergewöhnliche*n Tänzer*in mehr braucht, um die Erfahrung zu genießen. Wenn gute Tänzer*innen anwesend sind, aber scheinbar nicht mit einem tanzen wollen, kann das nur bedeuten, dass man noch nicht gut genug ist. Das ist meiner Meinung nach eine gesündere Einstellung, die direkter zu aller Vergnügen und Verbesserung führt. Leute, für die eine solche Philosophie keinen Sinn macht, sollten sich vielleicht eine*n feste*n Tanzpartner*in suchen.

Ich habe versucht, einige Prinzipien zu beschreiben, die meiner Meinung nach eine möglichst ungehinderte Ausübung des Tangotanzens ermöglichen. Die meisten von ihnen sind ziemlich einfache Überlegungen, die leicht in die Praxis umzusetzen sind. Es ist aber vor allem die grundsätzliche Einstellung, die über das eigene Üben und manchmal auch über das Üben der Mitmenschen entscheidet. Wenn man den Tango als leichte Unterhaltung sieht, oder nur als eine Ausrede, um Kontakte zu knüpfen, wird man sich wahrscheinlich nicht darum kümmern, irgendwelche Regeln oder Prinzipien zu befolgen, oder zu überlegen, was das angemessenste Verhalten auf einer Milonga wäre. Wenn man den Tango aber als ernsthafte Kunstform sieht, neigt man natürlich zu einem Verhalten, das diese kollektive Praxis gut funktionieren lässt und hoffentlich ihr Potenzial als sinnvolles Ritual und kulturell bedeutsame künstlerische Betätigung erfüllt.