• Allgemeine Grundsätze

Das Bewusste und das Unbewusste. Das Nichts.

Die Schwierigkeit des bewussten Ansatzes besteht darin, dass gute Kunst jenseits aller Worte, Konzepte, mentalen Bilder liegt. Die ultimative künstlerische Erfahrung ist weitgehend intuitiv, wo etwas, das ursprünglich nicht Teil unserer Natur war, zur zweiten Natur wird, oder wie ein neuer Instinkt. Es ist ein Ergebnis des „Einpflanzens“, „Aneignens“ einer neuen Funktion tief genug in das Unterbewusstsein. Der Tanz (oder der Gesang, das Malen, das Schreiben) kommt dann heraus wie ein Vogelgesang, ein Windstoß oder der Atem eines Neugeborenen – frei von Künstlichkeit, „aus dem Unbewussten herauswachsend“, in den Worten des Zen-Meisters D. T. Suzuki. Das bedeutet nicht, dass das Bewusstsein irgendwie ausgeschaltet oder eingeschläfert wird – tatsächlich ist man in solchen Zuständen oft wacher denn je. Aber die Aktivität wird frei von bewusster Überlegung, von jeder willkürlichen Wahl; die Dinge beginnen sich spontan angemessen anzufühlen – irgendwie perfekt passend zur Situation und doch unvorhergesehen. Es fühlt sich an, als ob etwas Größeres als der oder die Künstler*in durch ihn oder sie handelt. Der Psychologe Mihaliy Cszintsentmihaliy nennt solche Zustände „Flow“ (siehe „Flow – Psychologie der optimalen Erfahrung“). Eugen Herrigel‘s Meister im Bogenschießen sagte, dass der richtige Schuss dann erfolgt, wenn „Es“ schießt, nicht der Bogenschütze. In den „spirituellen“ Kampfkünsten des Ostens wurden solche Zustände als die Zustände des „nicht-bewussten“ bezeichnet. Das Bewusstsein muss lernen, dem Instinkt, der Spontanität, dem Unbewussten aus dem Weg zu gehen, damit der künstlerische Prozess so harmonisch wird wie die Prozesse der Natur. Das Hauptproblem ist, dass ein ungeschulter Geist dazu neigt, sich an feste Muster zu klammern. Das kann eine fixe Idee davon sein, was Kunst ist oder sein sollte, eine fixe Technik, die man für notwendig hält, persönliche Muster, durch die sich ein Künstler von anderen abgrenzt, oder eine Fixierung auf bestimmte Umstände, die einen angeblich daran hindern, gute Kunst zu machen. All das sind Hindernisse für höhere Seinszustände, die potentiell durch eine Kunstform erreicht werden können. Je mehr solcher festen Strukturen sich aufbauen, desto mehr blockieren sie die Spontanität, die Intuition, den Flow.

Um die eigene künstlerische Entwicklung „unblockiert“ zu halten, ist das Prinzip des „Nichts“ sehr nützlich.2 Wenn man über die Ziele nachdenkt – was der Tango ist oder anstrebt – ist es am besten, die Ideen einfach und allgemein zu halten, um mehr Raum für eine spontane Entdeckung im Prozess des Tanzens zu lassen. Aber das Prinzip des „Nichts“ ist noch wichtiger, wenn es darum geht, die richtigen Mittel zu entwickeln, um all diese Ziele zu erreichen. Je weniger „Mechanismus“, „Technik“, „exakter Ablauf“, desto besser. Im besten Fall kann sich Tango erstaunlich natürlich anfühlen, wo sowohl die Kommunikation als auch das Tanzen selbst einfach durch gute, natürliche Bewegungen erreicht werden. Diesen Punkt zu erreichen ist schwierig, und die meisten Menschen fangen an dem einen oder anderen Punkt an, sich auf einige künstliche Techniken zu verlassen. Die Herausforderung besteht dann darin, diese Techniken allmählich aufzulösen und alle Künstlichkeit loszuwerden, vor allem durch die Entwicklung einer guten natürlichen Körperkoordination (siehe Abschnitt Körperarbeit). Diese Aufgabe ist auch deshalb sehr schwierig, weil wir dazu neigen, antinatürliche Muster halbbewusst oder sogar ganz unbewusst zu übernehmen. Wir müssen uns zuerst dieses halbbewussten Kunstgriffs bewusstwerden, wie genau wir uns von der natürlichen Anmut entfernt haben, und dann lernen, wie wir den Schaden rückgängig machen können. In dem Maße, in dem die Mittel einfacher und natürlicher werden, in dem Maße, in dem der physische Körper gereinigt wird, fängt er an, sich mehr wie nichts anzufühlen – ein „Nichts“ im Besonderen. Das gleiche Prinzip gilt für andere Mittel der Tangokunst, wie z. B. die Partnerverbindung – letztendlich ist es „Nichts“ im Besonderen, nichts, woran der bewusste Verstand festhalten sollte. Durch eine solche Läuterung und Verfeinerung der Mittel werden wir freier und freier im Ausdruck unserer instinktiven Kräfte und unserer bewussten künstlerischen Vision.

Gute Kunst ist etwas, das geschehen will, und alles, was wir tun müssen, ist, die Hindernisse zu beseitigen. Einige der größten Hindernisse sind die indirekten Mittel – Techniken, Mechanismen, Anpassungen, Korrumpierungen des guten natürlichen Funktionierens. Was sich als „Nichts“ anfühlt, ist in Wirklichkeit eine Öffnung des Weges für eine spontanere Kreativität, denn es gibt immer eine Fülle von „Etwas“ in unseren Instinkten auf der einen Seite und unserer Vorstellungskraft auf der anderen Seite. Beim Prinzip des „Nichts“ geht es um die Freiheit von künstlichen Mitteln und starren Konzepten. Alle Prinzipien, von denen ich hier spreche, sind potentielle Freiheiten; nicht die starren „Solls“, sondern die „Soll-Nichts“. Deshalb sagt man, dass aus der Leere wahre Freiheit, unendliche Möglichkeiten und spontan angemessenes Handeln entstehen.



„Wenn du nicht alles vergisst, wenn du weiterhin daran denkst, mit den Händen und den Füßen gut zu performen und akkurat zu tanzen, kann man nicht sagen, dass du geschickt bist. Wenn der Geist in den Händen und Füßen stehen bleibt, wird keine deiner Handlungen einzigartig sein. Wenn du den Geist nicht vollständig ablegst, wird alles, was du tust, schlecht ausgeführt werden.“

– Zen-Meister Takuan Soho 


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2 Artem Maloratsky schreibt hier von „no-thing“, einer Silbentrennung, die im Deutschen so nicht anwendbar ist. Am besten stellt man sich das „nichts“ (no-thing) als Gegenteil von „etwas“ (some-thing) vor, als Erweiterung des Bewussten und Unbewussten durch das „Nicht-Bewusste“.